
Das Leben ist kein Märchen, oder doch?
Vielleicht genau die richtige Frage für einen grauen, kühlen Januartag? Wie bereits im vergangenen Jahr brachen alle Schülerinnen und Schüler, die an der IKS Französisch lernen, in Begleitung ihrer Französischlehrkräfte am 21. Januar ins Kino Cinestar in Neumünster auf. Im Vorfeld diskutierten wir in der Fachschaft bereits vor den Sommerferien sehr eifrig über die Frage, welchen Film wir uns mit unseren Schülerinnen und Schülern in diesem Schuljahr ansehen wollten. Letztlich fiel die Wahl auf einen Klassiker aus dem Jahr 2001: „Le fabuleux destin d’Amélie Poulain“ (dt.: Die fabelhafte Welt der Amélie).
Zwei Stunden ohne Unterricht, zwei Stunden ohne Klassenarbeiten, zwei Stunden ohne Popcorn, dafür mit selbst mitgebrachten Chips, aber vor allem zwei Stunden ganz viel Frankreich, zwei Stunden abtauchen in die Stadt der Liebe – Paris! Kitsch und Klischees statt grauem Schulalltag? Es war weit mehr als das, aber zunächst ein kleiner Rückblick:
Im letzten Jahr haben wir die Welt von Ben kennengelernt. Ben ist der Protagonist des Films „Patients“ – ein Mittzwanziger, ein Basketballspieler, der Sport studieren möchte. Durch einen Unfall scheint Bens Leben gefühlt vorbei zu sein. Seine neue Welt ist eine Rehaklinik, denn Ben kann nun die alltäglichen Dinge, wie z.B. die eigene Körperpflege, nicht mehr ohne Unterstützung bewältigen. Trotz der Tragik verdeutlicht der Film, mit nicht wenig Humor, dass sich auch nach einem sehr schweren Schicksalsschlag neue Türen öffnen.Anders als die Welt von Ben ist die Welt von Amélie fabelhaft. So suggeriert es zumindest der Titel. Im Unterricht sammelten wir erste Ideen, wer diese Amélie, gespielt von der bekannten französischen Schauspielerin Audrey Tautou, sein könnte. Auf dem Filmcover schaut uns Amélie direkt in die Augen. Wir sehen da eine fröhliche, schelmische, aber auch geheimnisvolle Seite, können uns ihrem durchdringenden Blick kaum entziehen.
Mit Neugierde und Fragen im Kopf tauchten wir nun über die Kinoleinwand ein in ihre Welt. Wir lernen Amélie kennen, erfahren, dass sie ihre Mutter früh verloren hat, auf dem Land bei ihrem alleinerziehenden Vater aufgewachsen ist. Mittlerweile ist Amélie eine junge Frau, die allein und eher zurückgezogen in einem gemütlich eingerichteten, etwas altmodisch erscheinenden, Apartment in Paris lebt. Ihren Unterhalt verdient sie sich im Café des deux moulins. Der Film entführt uns in die fabelhafte Welt von Paris – die Cafés, Montmartre, Sacré Cœur, die Bahnhöfe, die Metrostationen, die Marktstände. Amélie flaniert leichtfüßig durch diese Welt und blickt in die Seelen ihrer Mitmenschen. Sie schaut genau hin. Sie beobachtet die Menschen – ihre Nachbarn, den Gemüsehändler und seinen Mitarbeiter, den Stammgast im Café. Sie hat ein Gespür für die Bedürfnisse, die geheimen Wünsche und Empfindungen der Menschen in ihrem Umfeld, nimmt aber auch die Ungerechtigkeiten wahr. Sie mischt sich ein, meist auf eine subtile, stille Art und Weise. Hinter ihrem großen Herz verbirgt sich ihre verletzliche, ihre ängstliche Seite, ihre Scheu davor, das Glück in ihr eigenes Leben zu lassen. Nicht zuletzt dank ihres Nachbarn Raymond Dufayel, der an der Glasknochenkrankheit leidet und dem der Geschmack des Lebens außerhalb seiner Wohnung verwehrt bleibt, gelingt es ihr, sich selbst dem Zauber des Lebens zu öffnen.
Ein kitschiges Märchen aus der Stadt der Liebe? Ganz und gar nicht! Vielmehr öffnet uns die Geschichte von Amélie die Augen: Jetzt ist die Zeit, das Leben bewusst wahrzunehmen, hinzuschauen, auf unsere Mitmenschen, aber auch auf uns und auf unsere, vielleicht auch manchmal verborgenen, Bedürfnisse. Es sind kleine Dinge, die scheinbar unbedeutenden Situationen, die kurzen, vergänglichen Momente, die uns der Alltag jeden Tag bietet:
„La chance, c’ est comme le Tour de France: on l’ attend longtemps et ça passe vite.“ (Jean-Pierre Jeunet, Le Fabuleux Destin d’Amélie Poulain) –
Das Glück ist wie die Tour de France: Man erwartet es sehr lange und es vergeht schnell.
13.00: Wir kehren zurück. Viele Schülerinnen und Schüler gehen direkt nach Hause, durch die Straßen Neumünsters, über den Großflecken, durch die Holstengalerie, zu den Bushaltestellen, zum Bahnhof. Viele Oberstufenschüler müssen noch zum Nachmittagsunterricht an die IKS zurück – vielleicht mit Motivation und Vorfreude auf ein Lieblingsfach, vielleicht mit Müdigkeit oder mit Sorge wegen einer Leistungsabfrage oder vielleicht mit einem mulmigen Gefühl wegen fehlender Hausaufgaben. Uns Lehrkräfte erwarten die Zeugniskonferenzen.
Unendlich viele Situationen, unendlich viele Momente, unendlich viele Beobachtungen, unendlich viele Gedanken und Gefühle, die uns alle noch an diesem Tag und an allen folgenden begleiten werden. Die fabelhafte Welt liegt vor uns, wir müssen nur hinschauen und uns hineinstürzen – auch an einem grauen, kühlen Januartag. (Christina Winkler)